Ressourcen teilen!
Appell für eine globale Allianz gegen Armut und für Aufbauhilfe in den Heimatländern
Gütersloh, 12. Juni 2015. – Die Zahl ist kaum vorstellbar: Mehr als 50 Millionen Menschen sind laut Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen weltweit auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, Naturkatastrophen und Armut. Krisen rund um den Globus haben gewaltige Migrationsbewegungen in Gang gesetzt – zeitgleich, kontinuierlich wachsend, Tendenz: weiter steigend.
Globalisierung verringert Distanzen
Wir erleben, wie sich im Zeitalter der Globalisierung die Distanzen verringern. Die Betroffenheit rückt näher, wird unmittelbar und zeitgleich miterlebt – auch bei uns in Deutschland. In den Medien sehen wir die Bilder von Kämpfen und Flüchtlingslagern in Syrien, von Selbstmordanschlägen in Afghanistan, Erdbeben-Opfern in Nepal, von überfüllten Flüchtlings-Booten im Indischen Ozean und im Mittelmeer. Millionen Menschen, die aus Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ihre Heimat verlassen. Jeder einzelne von ihnen mit schrecklichen Erlebnissen, viele traumatisiert.
Die persönlichen Geschichten der Flüchtlinge kennen wir nicht. Nur ganz vereinzelt erfahren wir von Schicksalen, die uns zutiefst betroffen machen. Auch den jungen unbegleiteten Flüchtlingen, die unsere Walter Blüchert Stiftung zusammen mit dem Land NRW und der Stadt Dortmund im Projekt
„Angekommen“ fördert, fällt es schwer, über ihre Erlebnisse während der Flucht zu sprechen. Sie haben nur einen Wunsch: eine neue Heimat zu finden. Mit einem passgenauen Bildungsangebot wollen wir ihnen den Weg dafür ebnen.
Vielerorts Hilflosigkeit
200.000 Asylanträgen wurden im vergangenen Jahr in Deutschland gestellt. Es sieht so aus, als seien die Verantwortlichen überrascht worden von den Zuwanderungsströmen. Überfüllte Auffangstationen, überforderte, zögerliche Verwaltungen, verunsicherte Bürger vermitteln nicht gerade den Eindruck von Souveränität im Umgang mit der aktuellen Flüchtlingswelle.
Da verwundert es nicht, dass sich in der Bevölkerung – neben Verständnis und Hilfsbereitschaft – vielerorts auch ein Gefühl der Hilflosigkeit, Sorge und Angst vor einer Bedrohung durch die Menge der Neuankömmlinge breit macht. Rechtsradikale Gruppen schüren fremdenfeindliche Stimmung, Pegida-Anhänger demonstrieren. Aber das sind Ausnahmen. Mehrheitlich funktioniert das Miteinander und das soziale Engagement der Bürger – noch.
Menschliche Solidarität gefordert
Angesichts immer neuer Flüchtlingskatastrophen appelliert Papst Franziskus an menschliche Solidarität. Statt Abwehr, Ausgrenzung oder Desinteresse verlangt er eine Kultur der Begegnung: ein universales Netz des Zusammenwirkens im Kampf gegen Unrecht, Ausbeutung, Gewalt und Menschenhandel. Dazu gehört für ihn auch, Ressourcen zu teilen. Der Globalisierung der Migration, so der Papst, müssen wir mit der Globalisierung der Menschlichkeit begegnen.
Ich bin überzeugt: Wenn wir die Ursachen der Flüchtlingsbewegungen nicht bekämpfen, werden wir dieses globale Problem nicht lösen. Ziel aller Bemühungen muss es sein, die Heimatländer der Flüchtlinge zu stabilisieren und den Menschen dort Teilhabe an einem menschenwürdigen Leben zu ermöglichen.
Ressourcen teilen für Aufbauhilfe vor Ort
Reiche Länder wie Deutschland und die anderen G7- beziehungsweise G8-Staaten müssen in der Tat ihre Ressourcen mit den armen teilen und prüfen, welche Ressorts sich dafür nutzen lassen. Menschliche Solidarität, wirtschaftliche Notwendigkeit und nationale Sicherheit machen es erforderlich, dass sich die Industriestaaten intensiver als je zuvor für die Entwicklungsländer engagieren und Aufbauhilfe leisten: in einer globalen Allianz gegen Armut.
Ressourcen teilen, das heißt: Aufbau und Investitionen vor Ort, und zwar sowohl in den Heimatländern der Flüchtlinge als auch in den stark belasteten Nachbarstaaten, die – selbst Entwicklungsland – die große Masse der Flüchtlinge aufnehmen.
Vorrangige Aufgabe aller Akteure – einschließlich der Kirchen und der Wirtschaft –muss es sein, die Fluchtursachen zu beseitigen. Der globale Kampf gegen Armut, Hunger, Krankheiten und Hoffnungslosigkeit gelingt nur, wenn wir weltweit Anstrengungen unternehmen, die Lebensbedingungen in den ärmsten Ländern der Welt zu verbessern.
Know-how und Investitionen für Arbeitsplätze
Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa kommen, können lesen und schreiben. Aber in ihrer Heimat finden sie keine Möglichkeit, zu arbeiten und Geld zu verdienen. Dort fehlt es an Know-how und Finanzmitteln – für Erst-Investitionen in die Landwirtschaft und in die Infrastruktur, für Bewässerungsanlagen, Energiegewinnung und den Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft.
Die Industriestaaten haben doch dieses Wissen! Ihr Engagement, ihre Investitions-bereitschaft ist gefragt. Es wäre schon viel geholfen, wenn ein Entwicklungsland seine Bevölkerung selbst ernähren könnte. Die Hilfe ist in unserem eigenen Interesse!
Es geht um Klotzen statt Kleckern in der Entwicklungshilfe. Wie wäre es, wenn die Industrieländer zum Beispiel „Premium-Partnerschaften“ für ausgewählte Entwicklungsländer übernehmen, um Ressourcen zu bündeln und Erfolge nachweislich, sichtbar zu machen? Lassen wir uns vom Afrika-Engagement der großen Stifter-Vorbilder Bill und Melinda Gates und Warren Buffett inspirieren.
Um die globalen Krisen zu bewältigen, müssen Staat und Wirtschaft ihr Know-how sowie ihre personellen und finanziellen Ressourcen für das Engagement in den Entwicklungsländern bündeln, und zwar in allen Ressorts – mit einem Blick über den Tellerrand und in weitaus größeren Dimensionen als bisher.
Europa und NATO gemeinsam
315 Milliarden Euro stellt der Investitionsplan von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als Risikogarantie für die Projekte zur Verfügung, um private Investoren anzulocken, Arbeitsplätze zu schaffen. Schade, dass es keine Zweckbindung für Investitionen in Entwicklungshilfe gibt. Das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Kurzfristig ist das gemeinsame Vorgehen der europäischen Staaten und der NATO gegen Schlepper-Organisationen und Menschenhandel vielversprechend – notfalls auch militärisch unterstützt; laut ZDF-Umfrage wird dieses mehrheitlich von der deutschen Bevölkerung befürwortet.
Und wenn künftig Asylanträge nicht erst in Europa, sondern vor Ort in den deutschen Botschaften der Heimatstaaten der Flüchtlinge geprüft würden, dürfte sich für tausende Menschen eine aussichtslose Reise ins Ungewisse erübrigen.
Es bringt uns nicht weiter, wenn wir die Augen vor den Problemen verschließen oder wegschauen. Uns allen steht ein weiter Weg mit unzähligen Hindernissen bevor. Es gilt, mit Weitblick den eigenen Egoismus zu überwinden, weltweit eine Vertrauensbasis zu schaffen und Barrieren zwischen Arm und Reich abzubauen. Wir dürfen nicht länger warten.
Ihr
Gunter Thielen